Anzeige

Wie Trends auf TikTok entstehen

Von Tanzwellen bis Aura Farming: Warum TikTok-Trends immer kürzer leben – und dennoch die Kultur prägen.

05.11.2025 12:24
Redaktion
© Adobe

TikTok ist die wohl präziseste Maschine für virale Mikrotrends, die das Internet je hervorgebracht hat. Kein anderes soziales Netzwerk versteht es so gut, die Logik des Zufalls zu systematisieren. Ein Nutzer lädt ein kurzes Video hoch – ein Tanz, eine Phrase, ein Blick, ein Sound. Innerhalb weniger Stunden kann daraus ein globales Phänomen entstehen, multipliziert von Algorithmen, die Verhalten belohnen, nicht Prominenz.

Vom Renegade bis zum Corn Kid

Die frühen Jahre der Plattform (2018–2021) waren geprägt von einprägsamen Choreografien und wiederkehrenden Sounds: Renegade, Say So, Savage Love oder der ironisch-hymnische Oh no, oh no, oh no no no no-Sound schafften es bis in die Charts. Damals dauerte ein viraler Trend oft zwei bis drei Wochen, mitunter sogar länger. Der sogenannte „Corn Kid“ – ein kleiner Junge, der seine Liebe zu Mais besang – wurde 2022 zum globalen Meme und markierte die erste Phase, in der TikTok die gesamte Popkultur beeinflusste: Marken reagierten, Musiker profitierten, Nachrichtenmagazine berichteten.

Kürzere Wellen, größere Vielfalt

Seit der Plattformöffnung für Longform-Videos und Carousel-Posts (2023–2024) hat sich das Ökosystem verändert. Die reine „Trendkultur“ – also der kollektive Mitmach-Impuls rund um eine bestimmte Bewegung oder einen Sound – ist seltener geworden. Stattdessen entstehen Mikroformate: emotionale Rückblick-Clips, Mini-Stories oder Carousel-Trends mit introspektivem Ton. Die Halbwertszeit viraler Phänomene liegt heute oft bei nur drei bis fünf Tagen. Selbst internationale Trends schaffen es selten, länger als zwei Wochen relevant zu bleiben.

TikTok selbst fördert diesen Wandel aktiv. Durch personalisierte Feeds konkurrieren nicht mehr alle Nutzer:innen um denselben Trend, sondern bewegen sich in parallelen Mini-Universen. Was in einem Feed „überall“ ist, bleibt im nächsten völlig unsichtbar. Die kollektive Welle wird zur individuellen Strömung.

Die heißen Trends 2025

Aktuell dominieren drei Richtungen: visuelle Coolness, Emotionalität und Nostalgie.

Aura Farming ist das perfekte Beispiel für die erste Kategorie – ein Trend, bei dem Nutzer ihre „Ausstrahlung“ durch wiederholte Gesten oder Posen inszenieren. Der Ursprung: ein 11-jähriger Junge aus Indonesien, der auf dem Bug eines Bootes tanzt. Das Video löste weltweit Nachahmungen aus – ganz ohne erklärenden Text, nur durch Gestik und Rhythmus.

Der zweite Strang ist emotional: Carousel-Trends wie “That Was Rude” oder “Nothing’s Gonna Hurt You Baby” verbinden Alltagsärgernisse oder nostalgische Rückblicke mit sanften Sounds. Sie spielen mit Verletzlichkeit und Selbstironie – zwei Währungen, die auf TikTok inzwischen mehr zählen als reine Performance.

Und schließlich die Nullerjahre-Nostalgie: Von Britney bis Flipphone feiern junge Nutzer:innen die 2000er als exotisches Zeitalter, das zugleich vertraut und fern wirkt. Ästhetik, Sound und Mode verschmelzen zu Retro-Reels, die mehr Emotion als Information transportieren.

Der Vogel tanzt

TikTok hat gelernt, dass nicht jeder Trend ein Ereignis sein muss. Heute geht es weniger um den einen viralen Moment, sondern um die ständige Erneuerung des Ausdrucks. Was resoniert, ist nicht planbar – außer man nützt klassische Medien, um Trends aus dem Mikrokosmos in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass auch berechtigte Kritik am System bleibt.

Nicht nur öffentliche Sender haben scharfe Vorwürfe gegen TikTok erhoben – wegen Datenschutzbedenken und der Möglichkeit der Datensammlung durch den chinesischen Mutterkonzern ByteDance. Kritisiert werden zudem der Einfluss des chinesischen Staates, der angeblich Daten abgreifen und die öffentliche Meinung manipulieren könnte, sowie die Risiken für die Sicherheit junger Nutzer. Amnesty International etwa warnt vor schädlichen Inhalten, die depressive Gedanken und Selbstverletzung fördern.

Davon scheint ein prominenter Nachrichtenmoderator nichts mitbekommen zu haben – auch nicht, dass der „Bird-Trend“ bloß in seinem persönlichen Feed auftaucht. Warum gerade dort, kann nur der Algorithmus erklären.

Der TikTok-Algorithmus ist ein Empfehlungssystem, das mithilfe von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz personalisierte Inhalte auf der „Für dich“-Seite anzeigt. Er reagiert auf Interaktionen wie Likes, Kommentare, Shares und die Wiedergabedauer, um zu entscheiden, welche Videos einem Nutzer als Nächstes gezeigt werden. Dabei zählt nicht nur Zustimmung, sondern vor allem Verweildauer und Vollständigkeit der Ansicht – ein System, das zeigt, was uns fesselt, nicht was relevant ist.

Somit erklärt sich einiges.

(red)

Anzeige
Anzeige
Anzeige
Anzeige
Beitrag teilen

Das könnte Sie auch interessieren